REINER SCHWOPE

Schlagwort: Biopsychosozial

  • Mechanische vs. Biopsychosoziale Physiotherapie: II Das neue Modell

    Mechanische vs. Biopsychosoziale Physiotherapie: II Das neue Modell

    Fehler im mechanischen Modell

    Schon in den 70er Jahren wurden an den klassischen Systemen Mängel wahrgenommen. Das mechanische Modell war eindeutig unzulänglich. Die rein biologische und medizinische Herangehensweise integrierte wesentliche Faktoren nicht:

    • psychologische
    • geschlechtsspezifische
    • emotionale
    • kulturelle
    • soziale

    Das heute vorherrschende biomedizinische Krankheitsmodell lässt keinen Raum für die sozialen, psychologischen und verhaltensbezogenen Dimensionen von Krankheit. Es wird ein biopsychosoziales Modell vorgeschlagen, das eine Blaupause für die Forschung, einen Rahmen für die Lehre und einen Entwurf für Maßnahmen in der realen Welt der Gesundheitsversorgung bietet.

    Engel 1977[1]G L Engel: The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science 08.04.1977 196(4286):129-36

    In der Realität betreffen Krankheiten und Leiden Menschen mit individuellen menschlichen Erfahrungen. Die Wissenschaft mit ihren pathologischen Dateneinheiten kann nur Teil der Erkenntnislehre sein.

    Dies gilt insbesondere für Muskel-Skelett-Erkrankungen. Ein Fachartikel in der Science direct[2]Brona M FULLEN PhD, Harriet WITTINK PhD, An DE GROEF PhD, Morten HOEGH PhD, Joseph G MCVEIGH PhD, Denis MARTIN PhD, Keith SMART PhD: Musculoskeletal Pain: Current and Future Directions of Physical … Continue reading beschäftigt sich hiermit und dieser Artikel basiert auf dieser Arbeit.

    Welche Faktoren sind wichtig?

    Wenn Muskel-Skelett-Schmerzerkrankungen nicht mechanisch betrachtet werden, dann müssen viele weitere Faktoren bei der Therapie berücksichtigt werden:

    • kognitive
    • geschlechtsspezifische
    • psychologisch
    • soziale
    • kulturelle

    Daraus ergibt sich ein umfangreiches Programm:

    • Patientenzentrierte Versorgung
    • Reduzierung von „Red Flag“-Bedingungen
      • Angst vor körperlicher Arbeit
      • Schon- und Vermeidungsverhalten
      • Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz
      • Depression
      • sozialer Rückzug
      • Passivität
      • Krankheitsfixierung
      • Doktor-Hopping
      • Einnahme zu vieler Arzneien
    • Bewertung psychosozialer Faktoren
    • Einsatz bildgebender Verfahren nur im Einzelfall
    • Vorrang der körperlichen Untersuchung
    • regelmäßig Re-Befundung, um den Patientenfortschritt zu ermitteln
    • geeignete Lehr-/Lernmethoden zu Aufklärung und Information
    • Analyse der körperlichen Aktivität/Bewegung
    • manuelle Therapie nur als Ergänzung zu anderen Behandlungen,
    • Priorisierung der konservativen Therapie gegenüber eines operativen Vorgehens.
    • Arbeitsfähigkeit erhalten

    Das biopsychosoziale Modell sollte auch die Grundlage der internationalen Klassifizierung der Krankheiten in der Version zehn der Weltgesundheitsorganisation einfließen. Aber erst in der elften ist dies ansatzweise gelungen. Durch die fehlenden Kenntnisse mit der neuen Codierung und der Externalisierung der Kodierer ist der Erfolg auch der neuen Version mehr als fraglich.

    Die Liste ist natürlich nur ein Ansatzpunkt und ersetzt keine echte Befundanalyse und -auswertung.

    Was bisher vorliegt

    Ein Team der University Medical Center, Nashville, TN, USA unterstützt von einem Mitarbeiter der Johns Hopkins Universität untersuchte verschiedene Verfahren[3]Coronado RA, Brintz CE, McKernan LC, Master H, Motzny N, Silva FM, Goyal PM, Wegener ST, Archer KR. Psychologically informed physical therapy for musculoskeletal pain: current approaches, … Continue reading.

    • abgestufte Aktivität oder abgestufte Exposition
    • kognitiv-behaviorale Physiotherapie
    • Akzeptanz- und Commitment-basierte Physiotherapie
    • Internetbasierte psychologische Programme mit Physiotherapie

    Ein anderer untersuchte die systematische Aufmerksamkeit auf die psychosozialen Faktoren und in Verbindung mit dem Behandlungsergebnis[4]Main CJ, George SZ. Psychologically informed practice for management of low back pain: future directions in practice and research. Phys Ther. 2011 May;91(5):820-4. Epub 2011 Mar 30. PMID: 21451091.. Eine weitere Untersuchung über die psychologisch informierte Physiotherapie bezeichnet dies als vielversprechendes Versorgungsmodell ist, es würden aber noch überzeugender Beweise benötigt[5]Coronado RA, Brintz CE, McKernan LC, Master H, Motzny N, Silva FM, Goyal PM, Wegener ST, Archer KR. Psychologically informed physical therapy for musculoskeletal pain: current approaches, … Continue reading. Es gibt sicher noch einzelne weitere Arbeiten, aber eine grundlegende Forschung dazu fehlt bisher.

    Für den langen Zeitraum von den 70er Jahren bis heute und der Wichtigkeit einer eindeutigen Therapieaussage für Menschen mit Muskel-Skelett-Erkrankungen sind die vorliegenden Forschungen wirklich sehr gering. Die Datenlage ist mehr als dünn.

    Eindeutig kann man aber eine Grundaussage treffen. Physiotherapeutinnen sowie Ärztinnen für Physikalische und Rehabilitative Medizin werden meistens für die Beurteilung und Behandlung von Muskel-Skelett-Erkrankungen aufgesucht. Bei allen ist in der Regel der Schmerz das vorherrschende Merkmal. Dies in den Fokus zu nehmen ist ein wichtiger erster Schritt. Dabei sind das subjektive Gefühl, die objektive Bewertung und die medizinischen Faktoren zu balancieren.

  • Mechanische vs. Biopsychosoziale Physiotherapie: I Einführung

    Mechanische vs. Biopsychosoziale Physiotherapie: I Einführung

    Physiotherapie ist funktional und kosteneffektiv bei der Beurteilung und Behandlung von Muskel-Skelett-Erkrankungen. In der Regel kommen dabei drei Komponenten zum Einsatz:

    • Lehr-/Lernvermittlung
    • Bewegungsübungen und -training
    • Physikalische Therapie

    Dieser Artikel basiert auf einem aktuell erschienen Fachartikel in der Science direct[1]Brona M FULLEN PhD, Harriet WITTINK PhD, An DE GROEF PhD, Morten HOEGH PhD, Joseph G MCVEIGH PhD, Denis MARTIN PhD, Keith SMART PhD: Musculoskeletal Pain: Current and Future Directions of Physical … Continue reading.

    Die Frage nach der Evidenz und Empirie

    Das Sammeln von Daten in systematischen und standardisierten Prozessen liefert Erkenntnisse. Das sind empirische Belege. Alles, was offen sichtbar wird, ist evident.

    • Ist der Zusammenhang zwischen Maßnahme und Wirkung nachvollziehbar?
    • Liegen ausreichend Beweise und Erfahrungen vor?
    • Gibt es einen erbrachten Nachweis des Nutzens?

    Dies betrifft

    • Durchführung: Art und Weise
    • Gewichtung der einzelnen Komponenten

    Dies ist ein wissenschaftliches Paradigma. Der Mensch wird mechanisch betrachtet. Die individuelle Persönlichkeit spielt dabei keine Rolle.

    Biopsychosozialer Ansatz

    Der Mensch ist ein körperliches, fühlendes und beseeltes Lebewesen und lebt in einer ökologischen, sozialen Umwelt. Die biomedizinisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung versucht die Ergänzung um diese Faktoren. Dies wird als evidenzbasierter biopsychosozialer Ansatz bezeichnet.

    Die vorherrschende aktuelle Humanmedizin strebte die gewissenhafte, explizite und umsichtige Nutzung der aktuell besten Evidenz an. Dies führte dann zu einer Entscheidung über die Versorgung einzelner Patienten.

    Im biopsychosozialen Ansatz nicht explizit integriert sind ethische Grundsätze.

    Theorie und Praxis

    Die überwiegende Zahl der Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen befürworten den biopsychosozialen Ansatz. Auch wünschen sie sich weitere Forschungen zu diesem Thema.

    In der klinischen Praxis wird sie in der Regel nicht angewendet. Gründe dafür sind:

    • Es fehlt die Zeit
    • Die Arbeitsbelastung ist oft sehr hoch
    • Die Vermittlung der Forschung in die Praxis fehlt
    • Hoher administrativer Aufwand und ungenügende Kodierungssysteme

    Grundsätzlich ergibt sich daraus ein Widerspruch: Der Einsatz des biopsychosozialen Ansatzes verbessert die therapeutischen Erfolgsaussichten und doch fehlen die Instrumente der Umsetzung:

    • geeignete Fort- und Weiterbildungen nach erworbenem Berufsabschluss
    • Die Ausbildung und Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen
    • Die Überzeugung, dass Forschung und klinische Entwicklung nützlich sind
    • hohe Änderungsbereitschaft für effektivere Methoden

    Hinderlich für die Umsetzung in die Praxis ist zudem auch die fehlende Forschung zu den Ergebnissen der Umsetzung.